Bei der sogenannten Live-in-Betreuung werden ältere Menschen in ihren Privathaushalten betreut. Es handelt sich um eine Betreuungsform, in der gute Sorge versprochen und erwartet wird. Dabei wird gute Arbeit jedoch oft nicht ermöglicht. Im Interview erzählt uns die Arbeitsgeografin Prof. Karin Schwiter von der Universität Zürich mehr über die Herausforderungen und die Zukunft der Live-in-Betreuung in der Schweiz.
Interview I Emilie Casale, Romaine Farquet
Frau Schwiter, Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit dem Thema Live-in-Betreuung. Wieso ist für Sie gerade diese Form der Care-Arbeit ein wichtiges Thema?
Je älter wir werden, desto mehr Unterstützung brauchen wir im Alltag. Die benötigte Betreuung für die steigende Zahl älterer Menschen bereitzustellen, ist eine der zentralen Herausforderungen unserer Gesellschaft.
Deutschland und Österreich setzen dabei stark auf die Live-in-Betreuung. Sie fördern diese Betreuungsform explizit mit staatlichen Geldleistungen. Gleichzeitig wissen wir, dass die Arbeitsbedingungen von Live-in-Betreuer·innen oft nicht den ortsüblichen Standards entsprechen. Das macht es besonders wichtig, diese Betreuungsform genauer zu erforschen und die Öffentlichkeit über ihre Problematiken zu informieren.
In der Schweiz werden Live-in-Betreuungsarrangements statistisch nicht erfasst. Wie konnten Sie unter diesen Umständen Daten erheben?
Die Arbeit in Privathaushalten, die überwiegend von Frauen geleistet wird, wurde in der Statistik und in öffentlichen Debatten tatsächlich lange vernachlässigt. Bis heute wissen wir nicht, wie viele Live-in-Betreuer·innen in Schweizer Haushalten tätig sind.
Für unsere Forschung haben wir alle in der Schweiz tätigen Betreuungsfirmen kontaktiert, um die Grösse des Schweizer Markts abzuschätzen. Aufgrund dieser Befragung kommen wir auf eine geschätzte Zahl von 4000 Live-in-Betreuer·innen, die bei Betreuungsfirmen in der Schweiz angestellt sind. Hinzu kommen die Betreuungskräfte, die direkt bei den Haushalten beschäftigt sind. Ihre Zahl bleibt unbekannt. Da die Live-in-Betreuung in der Schweiz nicht mit staatlichen Geldleistungen gefördert wird, ist die Gesamtzahl jedoch sicher kleiner als in Deutschland und Österreich.
In Ihrem Buch Gute Sorge ohne gute Arbeit? sprechen Sie über die Schwierigkeiten bei der Live-in-Betreuung. Was sind die grössten Herausforderungen – für die Betreuungskräfte einerseits und die Betroffenen und Angehörigen andererseits?
Das Grundproblem der Live-in-Betreuung ist, dass die Betreuungsbedürftigen und ihre Angehörigen oft erwarten, dass ihnen die Live-in-Betreuungskraft rund um die Uhr zur Verfügung steht. Das geht natürlich nicht. Jede Arbeitskraft hat Anrecht auf freie Tage, regelmässige Pausen und tägliche Freizeit. Wie im Altersheim macht es Sinn, dass sie sich nach einem 8.5-Stunden-Tag erholen kann, um am nächsten Tag wieder bei Kräften zu sein.
Da Live-in-Betreuer·innen an ihrem Arbeitsort wohnen, ist es für sie jedoch sehr schwierig, diese Erholungszeit einzufordern. Oft stehen sie über Tage und Wochen fast rund um die Uhr auf Abruf im Einsatz. Das schädigt ihre Gesundheit und mindert die Betreuungsqualität, was auch aus Sicht der Betreuten und ihren Angehörigen problematisch ist.
In der Schweiz haben sich Betreuungskräfte gewerkschaftlich organisiert. Sie prangern zweifelhafte Praktiken von Agenturen an und setzten sich für die gesellschaftspolitischen Anliegen von Betreuerinnen und Betreuern ein. Hilft ein solches kollektives Vorgehen?
Ja. Die Selbstorganisierung ermöglicht es den Betreuer·innen, sich über ihre Rechte als Arbeitskräfte in der Schweiz auszutauschen. Das führt beispielsweise dazu, dass sie nachträglich die Bezahlung von geleisteten Überstunden einfordern. Zudem äussern sie sich als Gruppe in der Öffentlichkeit und machen damit die Probleme des Live-in-Arrangements sichtbar. Mit dem Slogan «24 Stunden Arbeit für 6 Stunden Lohn? – Nicht mit uns!» protestieren sie zum Beispiel gegen die verbreitete Praxis, dass sie auch ausserhalb ihrer Arbeitszeiten unbezahlt auf Abruf zur Verfügung stehen müssen.
Man spricht angesichts der Auslagerung der Sorgearbeit an migrierende Arbeitskräfte von globalen Sorgeketten. Wie sehen Sie die Zukunft des Live-in-Betreuungsmodells in der Schweiz?
Werden die geleisteten Arbeitsstunden und auch die Zeit auf Abruf tatsächlich bezahlt, ist eine 1:1-Betreuung teuer, und sie benötigt auch mehr als eine Arbeitskraft. Live-in-Betreuung wird in der Schweiz deshalb wohl auch in Zukunft ein Nischenphänomen bleiben. Ausserdem zeigen die Beispiele aus Deutschland und Österreich, dass eine grossflächige, staatlich geförderte Live-In-Betreuung beträchtliche Risiken birgt: Bleiben Grenzübergänge geschlossen oder verbessert sich die Arbeitsmarktsituation in den Herkunftsländern, fehlen plötzlich die Betreuer·innen. Zudem kämpfen die beiden Länder mit dem Problem, dass sie Arbeitsplätze subventionieren, in denen minimale Arbeitsstandards nicht eingehalten werden.
Deshalb tut die Schweiz wohl besser daran, in die Ausbildung lokal ansässiger Pflegekräfte, in mobile Spitex-Dienste, Pflegewohngruppen und in die Qualität der Pflegeplätze in Seniorenzentren zu investieren.
Im März dieses Jahres haben Sie mit Brigitte Aulenbacher, Helma Lutz und Ewa Palenga-Möllenbeck den Sammelband Home Care for Sale: The Transnational Brokering of Senior Care in Europe herausgegeben. Darin untersuchen Sie das Thema der Betreuung zu Hause im europäischen Vergleich. Konnten Sie übergreifende europäische Trends feststellen, die auch für die Schweiz gelten?
Ja. Das Buch zeigt einerseits, dass die Verbände der Betreuungsfirmen mächtige politische Akteure geworden sind. Auf nationaler und europäischer Ebene lobbyieren sie intensiv für ihre Interessen und versuchen, Regulierungen zu ihren Gunsten umzugestalten. Auf der anderen Seite macht das Buch sichtbar, dass die Arbeitskräfte in Privathaushalten in den meisten Ländern bisher nur ungenügend geschützt sind. Haushalte suchen gute Betreuung – und schaffen dabei äusserst prekäre Arbeitsverhältnisse. Das Buch zeigt diese Diskrepanz auf und versteht sich als ein dringlicher Aufruf an politische Entscheidungsträger·innen, für die meist von Frauen geleistete Betreuungsarbeit in Privathaushalten angemessene Arbeitsbedingungen sicherzustellen.
Das gilt auch für die Schweiz: Arbeitskräfte, die von Privathaushalten beschäftigt werden, sind bis heute von sämtlichen Schutzbestimmungen im Arbeitsgesetz ausgenommen. Ein im März 2022 eingereichtes Postulat von Nationalrätin Samira Marti will dies ändern. Das Postulat, welches die 24-Stunden-Betreuung durch Pendelmigrantinnen dem Arbeitsgesetz unterstellen will, wurde im September 2023 vom Nationalrat angenommen und dem Bundesrat überwiesen.
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